Magdalenenarie vs. Mitternachtstango
Doppelschöpfung einer Melodie („wandernde Melodie“)
Gericht | Datum | Aktenzeichen | Entscheidungsname |
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BGH | 5. Juni 1970 | I ZR 44/68 | „Magdalenenarie“ |
Zum Fall:Arie „O schöne Jugendtage“ der Magdalena aus der Oper „Der Evangelimann“ von Wilhelm Kienzl (1895)vs. „Tanze mit mir in den Morgen“ (Mitternachtstango, Text Kurt Hertha, Musik Karl Götz 1961) |
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Urteil: Keine Urheberrechtsverletzung | |||
Volltext der Gerichtsentscheidung (Wolters Kluwer) |
Hörbeispiele
Hörbeispiel 1 (Original):
Magdalenenarie
https://youtu.be/vExUV_MypBM
Hauptgutachter
Prof. Dr. Siegfried Borris
Kernaussagen / Leitsatz
1. Zur Frage des Anscheinsbeweises bei der Melodie-Entnahme: Die Übernahme muss eindeutig nachgewiesen werden. Sonst gilt der Grundsatz In dubio pro reo - Im Zweifel für den Angeklagten.
2. Wenn Melodien aus "Allerweltsfloskeln" bestehen oder teile aus so genannten "wandernden Melodien" aufgreifen, können sie zwar Werkschutz genießen. Dann sind allerdigs auch unabhängige Doppelschöpfungen wahrscheinlich. Grundsätzlich sind Doppelschöpfungen unwahrscheinlich.
Zusammenfassung
Die Urheberrechtsverletzung wird verneint. Der Refrain des Mitternachtstangos weise Ähnlichkeiten mit dem A-Teil der Magdalenenarie auf. Zwei der vier Motive hätten erhebliche Gemeinsamkeiten, eines sei ähnlich gestaltet. Zudem käme in beiden Werken das Wort „Glück“ vor. Die Arie stehe im 6/8-Takt, der Schlager im 4/4-Takt. Die Melodien wiesen die erforderliche eigenschöpferische Leistung für einen urheberrechtlichen Schutz auf. Sie besäßen allerdings keine starke Eigenart, womit eine Doppelschöpfung wahrscheinlicher sei. Die Gemeinsamkeiten beruhe auf „Allerweltsformeln“ und allgemein üblichen Kompositionstechniken wie variierte Wiederholungen. Das Gericht verweist auf ein Urteil des Münchner Landgerichts, das 1963 in Mitternachtstango keine Entnahme aus dem „Wendlinger Schrammelmarsch“ von Helger Lutz aus dem Jahre 1953 feststellte. Das Anfangsmotiv finde sich in ähnlicher Form in vielen Werken etwa von Mozart, Schubert, Chopin, Weber, Wagner und anderen. Es handle sich um eine gemeinfreie „wandernde Melodie“. Die Übereinstimmungen können zufällig sein, eine bewusste oder bewusste Entlehnung könne nicht nachgewiesen werden. Nach den Regeln des Beweises des ersten Anscheins sei auch bei einer unbewussten Entlehnung der Tatbestand der Nachbildung erfüllt. Eine Doppelschöpfung sei jedoch selbst dann möglich, wenn sich der Sachverständige eine vollkommen unabhängige Entstehung „nicht erklären“ könne. Wesentliche Melodieelemente seien im Vorbestand vorhanden, daher sprächen „die festgestellten Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten […] nicht zwingend dafür, dass Götz den Refrain des Tangos nach dem Vorbild der Arie geschaffen habe“.
Bedeutung
Eine Doppelschöpfung ist wahrscheinlich, wenn zwei ähnliche Werke auf „Allerweltsformeln“ aufbauen und nur wenig originell sind. Hier wurde die geringe Gestaltungshöhe sogar für ein Werk der Klassik festgestellt. In der Popmusik sind derartige handwerklich-formelhafte Gestaltungen von Melodien noch üblicher. Die Gestaltungshöhe ist also nicht bei Null anzusetzen und muss einen Mindeststandard erfüllen.